Larons Geschichte

Mein Name ist Matt, und der Tag, der mein Leben für immer veränderte, ist mir so klar in Erinnerung, als wäre er erst gestern gewesen.

Ich muss nicht nachdenken – die Feder gleitet von selbst über das Pergament, geführt von etwas Größerem als bloßer Erinnerung.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Tür, wie sie krachend gegen den Rahmen schlägt. Ich spüre den eisigen Wind, der wie ein lautloser Dieb durch den Raum schleicht, und schmecke den Schnee auf meinen Lippen, als hätte er sich in meiner Haut eingenistet.

Doch das alles liegt hinter mir.

Heute? Heute ist alles anders.

Meine linke Hand führt die Feder über das Pergament, als sei sie ein unaufhaltsamer Sklave. Meine rechte presst gegen die Wunde in meiner Brust, verzweifelt bemüht, die Blutung zu stillen.

Der blutige Dolch liegt auf den Dielen. Sein kaltes, schimmerndes Metall scheint mich mit jedem Wort, das ich schreibe, zu verhöhnen – als wüsste er, dass meine Zeit abläuft.

Aber ich schreibe weiter. Ich muss.

Diese Worte schreibe ich mit einem einzigen Ziel: Lest meine Geschichte – und seid gewarnt.

 

Es war kein normaler Tag in unserem kleinen Dorf. Wir liebten es ruhig, gemütlich, vorhersehbar. Ich führte die alte Taverne, die mir mein Vater hinterlassen hatte, und war zufrieden. Die Leute kamen, die Leute gingen, und nie geschah etwas Außergewöhnliches. Rückblickend muss ich sagen: Es war die schönste Zeit meines Lebens.

Doch was an jenem schicksalshaften Tag geschah, darf niemand erfahren. Ich habe es auch nie jemandem erzählt. Die Last ist zu schwer, die Wahrheit zu grausam, um sie einem anderen aufzubürden.

Es war der Tag nach der Wintersonnenwende, und die Kälte biss wie ein hungriges Tier. In der Taverne war es warm, und ich sorgte dafür, dass es meinen Stammgästen nicht nur an Getränken, sondern auch an Herzlichkeit nicht mangelte. Draußen tobte die Nacht und brachte einen Schneesturm mit sich, wie ich ihn weder zuvor noch je wieder erlebt habe. Der Himmel schien zu zerbrechen, und seine Scherben – riesige Eiskristalle – prasselten auf die Erde hinab.

Ich hatte gerade die letzten nüchternen Gäste verabschiedet und wollte mich nun den schwierigeren Fällen widmen: den Betrunkenen. Ich überlegte, ob ich sie in der Taverne übernachten lassen sollte. Doch wer konnte sagen, ob der Sturm sich bis zum Morgen legen würde? In unserem Dorf war es nicht üblich, lange bei anderen zu verweilen – jeder hatte es nah nach Hause. Nur jene, deren Glieder schon zu leblosen Stöcken gefroren waren, durften bis zum Morgengrauen bleiben.

Ich schüttelte den immer betrunkenen Norald und versuchte, ihm Wasser einzuflößen, aber er grunzte nur und rollte sich zur Seite. Gerade wollte ich es noch einmal versuchen, als der Sturm so heftig tobte, dass die Tür krachend aufsprang. Sie schlug mit solcher Wucht gegen den Türrahmen, dass die Nieten herausplatzten und klirrend auf den Boden fielen.

Bis heute weiß ich nicht, ob es wirklich der Sturm war, der die Tür aufgerissen hat.

Im selben Moment, als der eisige Wind in die warme Stube raste, blieb mein Blick an etwas hängen: Draußen, im tosenden Schneegestöber, kniete eine Gestalt. Sie rührte sich nicht. Wer – oder was – sie war, konnte ich nicht sagen. Ob sie überhaupt ein Mensch sein konnte? Sie war schwarz wie die Nacht selbst. Nein, schwärzer noch. Denn obwohl draußen völlige Dunkelheit herrschte, erkannte ich sie mühelos.

Ich konnte nicht einfach zusehen, wie eine arme Seele in diesem Sturm zugrunde ging. Also stürzte ich hinaus in das Schneetreiben. Der Wind schnitt wie Messer durch meine Kleidung, und die winzigen Kristalle stachen in meine Augen und Haut. Doch ich kämpfte mich voran, Schritt für Schritt.

Die Kleidung des Fremden war seltsam – glatt, fast unmöglich zu greifen. Doch nach mehreren Versuchen gelang es mir, sie zu packen. Mit letzter Kraft schleppte ich die Gestalt zurück in die Taverne.

Meine Hände, halb erfroren, rissen die Tür zu, und ich lehnte mich keuchend dagegen, bis sie ins Schloss fiel. Für einen Moment stand ich nur da, sandte ein Stoßgebet zu Amishal und lauschte, wie die vertraute Stille meiner Räume sich wieder ausbreitete – wie ein Gast, den ich mit offenen Armen empfing.

Doch die Stille währte nur kurz. Sie wurde jäh unterbrochen, als der Fremde schwer zu husten begann.

Ich eilte zu ihm und versuchte, ihm die Jacke vom Leib zu ziehen. Erst jetzt bemerkte ich, wie ungewöhnlich sich der Stoff anfühlte. Er war weder kalt noch nass – vielmehr geschmeidig, als wäre er in Öl getränkt oder mit Fett eingerieben. Doch meine Hände blieben sauber, als hätte ich ihn gar nicht berührt. So sehr ich mich auch mühte, ich konnte die Jacke nicht abnehmen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu improvisieren. Ich schenkte einen Krug warmer Milch randvoll ein, verschüttete die Hälfte auf dem Weg und hielt ihn dem Fremden hin. Zwei dunkle Hände, gehüllt in Handschuhe, schlüpften unter dem Umhang hervor, griffen den Krug und zogen ihn zurück in die Schatten der Jacke. Einen Augenblick später kehrten sie das Gefäß zurück – unberührt.

Dann hustete der Fremde erneut, diesmal so heftig, dass er nach hinten fiel und regungslos liegen blieb.

Die Blicke meiner Gäste brannten in meinem Rücken. Nervös, aber entschlossen hob ich die Gestalt vorsichtig hoch. Trotz ihrer Größe war sie überraschend leicht, fast so, als hätte ich nur einen Schatten getragen.

Mit langsamen Schritten brachte ich sie in ein leeres Gästezimmer im ersten Stock und legte sie behutsam auf das Bett. Der Körper zitterte unkontrolliert, als würden die Eiskristalle des Sturms noch immer auf die Haut prasseln. Der Umhang blieb fest um das Gesicht geschlungen, als sei er mit der Gestalt verwachsen, wie eine zweite Haut.

Ich suchte nach einem Ansatz, den seltsamen Stoff zurückzuschlagen. Es dauerte quälend lange, bis meine Hände Halt fanden – und noch länger, bis ich den Umhang schließlich löste.

Als ich endlich ihr Gesicht freilegte, stockte mir der Atem. Der Anblick traf mich wie ein Schlag, und ich taumelte einen Schritt zurück, die Hände nach Halt suchend. Ich wäre gestürzt, hätte mich nicht der Stuhl hinter mir abgefangen. Mein Blick blieb an der Fremden hängen, doch ihre Augen waren starr zur Decke gerichtet.

Das Gesicht, das unter der Kapuze hervorkam, war von unnatürlich blasser Haut bedeckt. Im Schein des Feuers schimmerte sie wie feinstes Porzellan. Dunkelblaue Augen starrten reglos zur Decke – leer wie erkaltete Asche, in der noch ein letzter Funke glimmt.

Aschblondes, dünnes Haar fiel wie Schleier um ihren Kopf und konnte die langen, spitzen Ohren nicht verbergen.

Es war eine Weldhra. Eine Dunkelelfe.

So nennen wir Menschen sie. Vor unzähligen Jahren sollen mächtige Elfenmagier einen Spalt in eine andere Welt geöffnet haben. Durch diesen Spalt kam ein Schatten, der ihre Magie vergiftete und sie verdarb. Der Legende nach zerstörten die Weldhra sich selbst – ihre Macht zu groß, ihre Dunkelheit zu tief.

Was blieb, waren die Schatten. Erinnerungen, die eine Gestalt angenommen haben.

Die Fremde hustete erneut. Ihre Augen, die zuvor starr zur Decke gerichtet waren, senkten sich langsam, bis ihr Blick den meinen traf.

Aus irgendeinem Grund hatte ich Traurigkeit erwartet – eine unendlich tiefe Traurigkeit. Doch da war nichts. Nur Leere. Diese entsetzliche Leere, als wäre der Schatten längst gestorben und hätte es selbst noch nicht bemerkt.

»…erig- nîf«, flüsterte die Weldhra, kaum hörbar. Die Worte waren fremd, ihre Sprache ein leises Echo aus einer anderen Welt. Die Schatten auf ihrem Gesicht schienen zu leben – sie warfen Wellen, verschwammen, nur um wieder zu verblassen.

Trotz der Angst, die mich bei ihrem Anblick durchflutete, wusste ich instinktiv, dass sie mir nichts Böses wollte. Im Gegenteil: Sie war dem Tod nahe. Und in dieser Ausweglosigkeit schien sie mich um Hilfe anzuflehen.

Ich beugte mich näher über ihr Gesicht, meine Stimme leise und zögernd.

»Was…«, begann ich, das Unbehagen spürbar in jedem Wort, »was hast du gesagt?«

»…erig- nîf«, flüsterte sie erneut. Dieselben fremden Laute. Doch diesmal klangen sie seltsam vertraut, wie ein Wort, das ich längst hätte kennen sollen.

Ohne zu wissen, warum, legte ich meine Hand auf den Umhang der Weldhra.

Sie sprach ein drittes Mal zu mir, und jetzt, wo ich ihr so nahe war – jetzt verstand ich endlich. Die Worte bedeuteten nichts anderes, als dass ich sie entkleiden sollte.

Warum? Ich wusste es nicht. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte, und doch konnte ich in diesem Moment nicht anders, als zu gehorchen. Ein Kleidungsstück nach dem anderen löste sich von ihrem Körper. Der seltsame Umhang, der zuvor so unnachgiebig gewesen war, gab plötzlich nach. Mühelos glitt er zu Boden.

Als der schwarze Körper nackt vor mir lag, begriff ich zum ersten Mal, dass ich eine Frau vor mir hatte. Hitze stieg mir ins Gesicht, und instinktiv wollte ich den Blick abwenden, um ihr Privates zu schützen.

Doch plötzlich schoss eine blasse Hand hervor und krallte sich fest in meinen Arm. Ihre Berührung war unerwartet stark, fast verzweifelt. Die Weldhra drehte sich leicht zu mir, doch noch bevor ich etwas sagen konnte, fiel sie wieder in ihre todesähnliche Starre zurück.

Ich blickte in ihre blauen Augen. Für einen Moment glaubte ich, darin etwas zu erkennen – einen Hauch von Wärme, ein Leben, das noch immer gegen das Dunkel ankämpfte.

Ihre Lippen bewegten sich. Doch diesmal brachte sie keinen Ton hervor.

Wieder beugte ich mich über die Weldhra, und wieder verstand ich, was sie mir zuflüsterte.

»…sterbe… bald…«

Ich schluckte hart.

»…rette…«

Ihr Blick flackerte, ihre Hände zuckten und umschlossen ihren Bauch.

»…rette… mein Kind…«

Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich riss meinen Blick von ihrem Gesicht los, taumelte zurück und rang nach Luft. Ihr Kind! Die Weldhra war schwanger – zu schwach, um ihr Kind zur Welt zu bringen. Eine Welle der Panik drohte mich zu überwältigen. Es wäre so einfach gewesen, den Raum zu verlassen, all das hinter mir zu lassen.

Doch eine unerklärliche Kraft hielt mich zurück. Ich atmete tief ein, zwang mich, die Kontrolle über meine Gedanken wiederzuerlangen, und trat erneut an ihr Bett.

Die Weldhra war noch blasser geworden. Ihre Haut, zuvor schon weiß wie gefrorener Schnee, schien jetzt fast durchsichtig. Ein blasser Schleier hatte sich über ihre Augen gelegt. Der Tod war ihr nah, und doch schaffte sie es, noch einmal zu sprechen.

»…rette mein Kind…«, flüsterte sie schwach, aber mit erstaunlicher Klarheit. »…nur er kann die Finsternis zurückdrängen. Die Armeen der Dunkelheit… seine Armeen… werden stärker. Aber wenn er lebt, wird er sie aufhalten.«

Ihre Lippen zuckten, und für einen Moment schien sie zu lächeln. Sie nahm meine Hand, sah mir direkt in die Augen.

»Gib ihm das Amulett, das ich bei mir trage. Er wird wissen, wie er es einsetzt. Er ist…«

Ihre Worte brachen ab. Sie sank zurück auf das Bett – nicht aus Erschöpfung, sondern weil sie ihr Leben ausgehaucht hatte.

Ich wusste, dass nun jede Sekunde zählte.

Was dann geschah, ist wie ein Schleier in meiner Erinnerung. Vielleicht war es ihr Geist, der mich leitete, oder ein unausgesprochenes Wissen, das plötzlich in mir erwachte.

Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist der winzige Körper eines Neugeborenen in meinen Armen. Sein Puls war schwach, doch er lebte.

Aber ich hielt nicht nur das Leben eines Kindes in meinen Händen. Ich hielt das Schicksal einer ganzen Welt.

 

Fast zwanzig Jahre sind seit jener Nacht vergangen, doch kein Tag vergeht, an dem ich nicht an den Schatten denke, der auf meinem Bett lag und langsam verblasste.

Ich sehe ihre Augen – strahlend blau, eingebettet in ein Gesicht, so weiß wie frisch gefallener Schnee. Diese Augen durchbohren mich, flehen mich stumm an. Für einen einzigen Moment war ich bereit, alles zu tun, um ihr Leid zu lindern.

Aber ich war nicht stark.

Ich war schwach.

Die Angst vor den anderen Dorfbewohnern lähmte mich. Ihre Stimmen hallen bis heute in meinem Kopf: »Hexer! Dämon!« Ich wusste, was sie tun würden, wenn sie von dem Jungen erfuhren. Ihre Angst war immer stärker als jede Wahrheit.

Also schwieg ich.

Und ich zog den Jungen heimlich auf.

Selbst als er zwei Nächte später mit einem Fieberkrampf in seinem Bett lag, wagte ich nicht, jemanden um Hilfe zu bitten. Die Worte blieben mir im Hals stecken, erstickt von meiner eigenen Furcht.

Ich war zu feige.

Ich saß an seinem Bett, hörte, wie sein Atem raste, und sah, wie sich sein kleiner Körper unter der Decke verkrampfte. Meine Hände zitterten, aber ich tat nichts – außer hoffen, dass das Fieber von selbst nachlassen würde.

Der Gedanke, die Tür zu öffnen, hinauszugehen und jemanden zu holen, schien unerträglich. Was würden sie sagen? Was würden sie tun, wenn sie von ihm erfuhren?

Also schwieg ich. Und wartete.

Einige Stunden später war das Fieber verschwunden. Sein Atem wurde ruhig, sein kleiner Körper lag reglos unter der Decke. Erleichtert atmete ich auf und beugte mich über ihn, um sicherzugehen, dass es ihm wirklich besser ging.

Doch dann spürte ich es.

Etwas griff nach mir. Ein Schatten – dunkel, formlos, unaufhaltsam – drang in mich ein. Ich fühlte, wie er durch meinen Mund und meine Nase kroch, tief in meine Brust. Er war kalt wie der Tod selbst, und mit jeder Sekunde dachte ich, ich würde ersticken. Meine Lungen brannten, Panik ergriff mich, doch ich konnte nicht schreien, nicht wegrennen.

Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei.

Ich fiel auf die Knie, schnappte keuchend nach Luft, sicher, dass dies mein Ende war. Doch anstelle des Todes kam eine seltsame Ruhe über mich. Eine Stärke, die ich nie zuvor gekannt hatte, breitete sich in mir aus – fremd, aber nicht unangenehm.

Es war, als hätte der Schatten etwas in mir hinterlassen.

Als ich den Jungen erneut ansah, lächelte er. Zum ersten Mal, seit er bei mir war, zog ein echtes, warmes Lächeln über sein Gesicht. Es war, als hätte er etwas Dunkles abgestreift – als hätte die Last, die ihn umgab, ein neues Zuhause gefunden.

Ich spürte, wie mein Herz leichter wurde, und ohne es zu merken, lächelte ich zurück.

Es war der Moment, in dem ich endlich seinen Namen aussprach.

Laron.

Der Name kam mir so selbstverständlich über die Lippen, als hätte er die ganze Zeit in der Luft gelegen, nur darauf wartend, dass ich ihn aufgriff.

Und in diesem Augenblick gehörte er wirklich zu mir.

Seit jener Nacht habe ich nie wieder ein Wort darüber verloren.

Das Einzige, was mich noch an sie erinnerte, war das Amulett, das die Weldhra bei sich getragen hatte. Wie sie selbst war es nicht mehr als ein Schatten – ein handtellergroßes, sechseckiges Etwas, das aus reiner Dunkelheit zu bestehen schien.

Es sog jedes Licht ein, das es berührte, und ließ nichts zurück. Kein Funkeln, keinen Schimmer. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es mehr als nur Dunkelheit war – als ob etwas Lebendiges darin lauerte. Etwas, das mich beobachtete, wenn ich es zu lange ansah.

Ich versteckte das Amulett an einem Ort, den niemand je finden würde. Mit jedem Schritt, den ich von ihm fortging, hoffte ich, die Erinnerung an jene Nacht hinter mir zu lassen – sie zu begraben, zusammen mit dem Schatten, den sie über mein Leben geworfen hatte.

 

Ein paar Wochen später plante ich meine jährliche Reise nach Larkas, um die Biervorräte für die Taverne aufzufüllen. Diesmal nahm ich Laron mit, verborgen unter der Plane, zusammen mit den leeren Fässern.

Als wir zurückkehrten, präsentierte ich ihn den Dorfbewohnern als einen Waisenjungen, den ich aus Mitleid aufgenommen hatte. Seine Mutter, so erzählte ich, sei plötzlich gestorben, und ich hätte nicht das Herz gehabt, ihn alleine zurückzulassen.

Die gutgläubigen Dorfbewohner nickten mitfühlend und nahmen Laron sofort wie einen der ihren auf. Niemand stellte Fragen, und bald schon fühlte er sich im Dorf wie zu Hause.

Der Junge entwickelte sich prächtig. Er war freundlich, hilfsbereit und spielte gern mit den anderen Kindern. Seine Neugier kannte keine Grenzen. Fast täglich löcherte er mich mit Fragen – über die Sterne, die Natur oder die Geschichten, die ich ihm erzählte. Meist reichten meine Antworten aus, um seinen Wissensdurst zu stillen, doch manchmal überraschte er mich mit Gedanken, die weit über mein Verständnis hinausgingen.

So lebten wir zehn Jahre. Unser Leben verlief ruhig, fast schon friedlich, und ich wagte zu glauben, dass es nicht besser hätte sein können. Laron war glücklich, ich war glücklich – und die Schatten der Vergangenheit schienen immer weiter zu verblassen.

Doch dann, eines Tages im Morgengrauen, kamen sie.

Sie plünderten, brandschatzten, vergewaltigten. Ihr Geschrei hallte durch das Dorf, begleitet vom Klirren von Stahl und den Schreien der Sterbenden. Sie schlugen, folterten und tranken das Blut ihrer Opfer, als wäre es Wein.

Sie waren die Vorboten einer Armee, die unsere Welt für immer verändern sollte.

Und ich sah zu. Ich tat nichts.

Doch ich wusste, warum sie da waren. Wonach sie suchten.

Drei Tage lang durchkämmten sie das Dorf. Unermüdlich, mit einer Grausamkeit, die keine Grenzen kannte. Aber sie fanden es nicht. Weder die Finsternis noch das Schwert.

Als sie schließlich abzogen, war nichts mehr, wie es war.

Die Horden fielen über das Land her wie ein endloser Sturm. Sie verstümmelten, versklavten, töteten – nahmen sich, was sie wollten, ohne einen Moment zu zögern.

Doch dann fanden sie den Jungen.

Laron. Mein Laron.

Sie nahmen ihn mit, ohne zu zögern, ohne eine Spur von Menschlichkeit. Er war nicht nur der Junge, den ich großgezogen hatte. Er war mein Sohn.

Ich schrie, wollte ihn halten, doch meine Stimme war schwach, meine Hände leer. Sie zogen ihn fort, und ich konnte nichts tun. Ich hatte ihn verborgen, beschützt, geliebt – und doch hatten sie ihn gefunden.

Mein Schweigen hatte sie zu ihm geführt.

Der Schmerz des Verlustes zerriss mir fast das Herz. Es fühlte sich an, als hätte man mir einen Teil meiner Seele herausgerissen und mich mit einem leeren, klaffenden Abgrund zurückgelassen.

In meiner Verzweiflung holte ich das Amulett aus seinem Versteck. Zum ersten Mal seit Jahren hielt ich es wieder in meinen Händen. Die Dunkelheit darin schien lebendig, als würde sie pulsieren, mein Leid spüren – und es verschlingen.

Ich begann, es bei mir zu tragen.

Es fühlte sich schwer an, fremd, und doch konnte ich es nicht loslassen. Das Amulett saugte meinen Schmerz in sich auf, ließ die Qual in mir verblassen. Doch mit jedem Tag, an dem ich es trug, veränderte ich mich. Nicht leichter, nicht freier – sondern leerer.

Aber das Leben ging weiter.

Die Wunden des Dorfes heilten langsam. Die verbrannten Häuser wurden wieder aufgebaut, die Felder neu bestellt. Nach und nach kehrte das alte Leben zurück – oder zumindest das, was davon übrig war.

Doch niemand, niemand, stellte Fragen.

Niemand fragte, warum sie ausgerechnet uns angegriffen hatten. Niemand wollte wissen, warum sie meinen Jungen, meinen Laron, mitgenommen hatten. Es war, als ob alle die Antworten fürchteten.

Aber ich konnte nicht vergessen. Jede Stunde, jede Minute zogen mich die Erinnerungen zurück zu dem Moment, als sie ihn fortschleppten. Mein Schweigen lastete schwerer denn je.

Bis heute habe ich niemandem von jener Nacht erzählt. Niemand weiß von dem Amulett.

Ich verurteile mich selbst dafür, dass mir mein ruhiges, geregeltes Leben mehr wert war als das Schicksal eines ganzen Dorfes. Doch ich kann es nicht mehr ändern.

 

Etwas jedoch hat mir Kraft gegeben. Meine Glieder sind stark, mein Wille ungebrochen. Und ich weiß, warum. Ich fühle es.

Das Amulett hängt um meinen Hals – ein Stück Dunkelheit, das alles Licht verschlingt. Und der Mantel, den sie trug, als sie in meine Taverne kam, liegt über meinen Schultern. Er ist unversehrt – kein Kratzer, kein Riss. Wie ein Schatten, der mich umhüllt.

Draußen tobte ein Schneesturm, so heftig, dass ich die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Doch inmitten des heulenden Winds hörte ich ihre Stimme. Sie rief mich.

Ich öffnete die Tür. Der Sturm schlug mir entgegen, Schnee peitschte mein Gesicht und benetzte meine Lippen. Ich leckte den Schnee, so wie damals, und der Geschmack holte mich zurück. Die wirbelnden Flocken umhüllten mich, als wollten sie mich verschlingen.

Wieder hörte ich das Geräusch des Sturms, wie er in meine Taverne eindringt. Wieder spürte ich den eisigen Windhauch, der mich bis auf die Knochen durchdringt.

Heute war wie damals. Und doch so anders.

Ich wollte meine letzte Reise antreten, ohne zu wissen, wohin sie mich führen würde. In Gedanken an sie, die Weldhra, umklammerte ich das Amulett fest in meiner Hand. Es fühlte sich schwer an, kälter denn je.

Als ich hinaus in den Schnee trat, hielt ich inne.

Er stand da.

Groß und kräftig war er geworden. Die Kapuze eines dunklen Mantels verdeckte sein Gesicht, doch ich erkannte ihn sofort. Laron. Mein Sohn.

»Das Amulett meiner Mutter. Gib es mir.« Seine Stimme war ruhig, fast tonlos, und schnitt dennoch durch die eisige Luft wie ein Messer.

»Mein Junge, Laron, du lebst!« Meine Worte brachen aus mir heraus, voller Erleichterung, fast wie ein Gebet. Ich streckte die Arme nach ihm aus, wollte ihn an mich ziehen, all die Jahre der Trennung vergessen.

Doch er wich zurück.

Erschrocken, fast angewidert, hob er eine Hand, um mich auf Abstand zu halten. Seine stechend blauen Augen glühten unter der Kapuze hervor und hielten mich zurück.

»Gib mir das Amulett«, wiederholte er, diesmal fester, dringlicher.

Wie von selbst bewegte sich meine Hand. Meine Finger öffneten sich, und das Amulett glitt hinaus.

Laron nahm es, ohne zu zögern. Seine langen, schlanken Finger umschlossen die schwarze, sechseckige Form. In dem Moment, in dem er es berührte, schien etwas in ihm zu erwachen. Für einen flüchtigen Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht – ein Lächeln, das ich kaum deuten konnte.

Sein Griff wurde fester. Dann hob er die Hand und drückte das Amulett an seine Brust.

Für einen Moment war alles still. Der Sturm, das Knirschen des Schnees unter meinen Füßen – selbst mein Atem schien verstummt. Etwas an ihm war anders.

Ich wollte etwas sagen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.

»Dein Lohn, Vater…«

Die Worte tropften vor Verachtung aus seinem Mund, schärfer als jede Klinge.

Bevor ich reagieren konnte, schoss eine Hand unter seinem Mantel hervor. Der Dolch blitzte im fahlen Licht des Schneesturms, und ehe ich begreifen konnte, was geschah, fuhr er mir in die Brust.

Ein brennender Schmerz durchzuckte mich. Meine Knie gaben nach, und ich fiel keuchend in den Schnee. Meine Hände suchten verzweifelt nach Halt, drückten gegen die Wunde, doch das Blut strömte unaufhaltsam hervor.

Larons Gesicht blieb reglos, seine Augen kalt wie der Winter um uns herum.

»Laron…«, stöhnte ich, der Schmerz in meiner Brust raubte mir den Atem.

Sein Name. Mein Sohn.

Für einen Moment zuckte er zusammen, als hätte ihn das Wort getroffen wie ein Pfeil.

»Laron?« Seine Stimme zitterte, kaum hörbar. Doch dann hob er den Kopf, und ein kaltes, bitteres Lächeln verzog seine Lippen. »Lange Zeit hieß ich Laron.«

Er trat einen Schritt zurück, sein Mantel wirbelte im Sturm um ihn her.

»Aber jetzt, nach all der Zeit, wird mich die Welt nur noch unter einem Namen kennen.« Seine Augen glühten unter der Kapuze, die Worte fielen mit unheilvoller Schwere.

»Ranlarian.«

Der Name hing in der Luft, scharf und endgültig wie das Klingen eines Schwertes. Noch ein kurzer, verächtlicher Blick in meine Richtung. Seine Augen glühten kalt, voller Abscheu und etwas, das ich nicht zu deuten wagte.

Dann drehte er sich um, und ohne ein weiteres Wort verschwand er im Sturm.

Der Wind verschlang ihn, ließ den Mantel wie einen Schatten hinter ihm verwehen, bis er ganz in der weißen Unendlichkeit verschwand.

Ich blieb zurück, allein im peitschenden Schneetreiben. Mein Atem war schwer, die Wunde in meiner Brust brannte wie Feuer. Doch nichts schmerzte mehr als sein Blick.

Langsam, Schritt für Schritt, schleppte ich mich zurück in die Taverne. Jeder Atemzug war ein Kampf, jeder Schritt ließ meine Beine zittern, als würden sie gleich nachgeben.

Die Treppe nach oben erschien mir wie ein Berg, den ich kaum erklimmen konnte. Doch irgendwie schaffte ich es. Ich zog mich mit letzter Kraft an der Wand entlang, bis ich schließlich mein privates Gemach erreichte.

Dort griff ich nach einem Laken aus Leinenstoff, das über der Rückenlehne eines Stuhls hing. Meine Finger fühlten sich taub an, doch ich hielt es fest.

Mit einem tiefen, zittrigen Atemzug ließ ich mich auf den Stuhl sinken. Mein Blick fiel auf den Dolch, der immer noch in meiner Brust steckte, das Metall dunkel vom Blut.

Ich wusste, dass ich ihn herausziehen musste. Also packte ich den Griff, schloss die Augen – und zog mit einem einzigen, heftigen Ruck.

Ein Schmerz, so stechend und heftig, dass mir schwarz vor Augen wurde, durchzuckte mich. Der Dolch fiel klirrend zu Boden, und sofort breitete sich ein dunkler, roter Fleck auf den hölzernen Dielen aus.

Keuchend drückte ich das Laken auf die Wunde. Meine Hand zitterte, während ich versuchte, das Blut zu stillen. Der Raum schien sich um mich zu drehen, doch ich biss die Zähne zusammen.

Ich konnte jetzt nicht aufgeben. Nicht hier. Nicht so.

Schwerfällig schleppte ich mich an meinen Schreibtisch. Jeder Schritt ließ mich mehr schwanken, und das Blut, das aus meiner Wunde sickerte, hinterließ eine dunkle Spur auf dem Holzboden.

Mit zitternder Hand griff ich nach einem Pergament und ließ mich in den Stuhl sinken. Mein Atem ging flach, mein Blick verschwamm, doch ich hielt die Feder fest.

Ich schreibe diese Worte.

Ich schreibe sie mit einem Ziel: Lest meine Geschichte – und seid gewarnt.

© Mario Hackel (1.Version: 2007; Diese Version: 2024)

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